Neben den Kolleg*innen im Gesundheitswesen waren es vor allem die Beschäftigten im Handel, die seit Beginn der Pandemie entweder mit Kurzarbeit oder Jobverlust Sicherheiten verloren (wohingegen Onlineriesen wie Amazon Rekordgewinne einfuhren), oder aber „den Laden am Laufen hielten“. Vor allem die Versorgung mit den Gütern des täglichen Bedarfs stellten die Kolleg*innen im Einzelhandel, übrigens überwiegend Frauen, sicher und öffneten Tag für Tag die Läden, während ein Großteil der Gesellschaft ins Homeoffice ging. Mehr Wertschätzung gab es dafür nicht, die Probleme im Handel sind dieselben wie vor der Pandemie, allen voran die Entgrenzung der Arbeitszeiten und die größtenteils schlechte Bezahlung infolge von mangelnder Tarifbindung.
Es braucht eine neue Diskussion um die Werte in unserer Gesellschaft. Eine sich immer weiterverbreitende Haltung, die „rund-um-die-Uhr-verfügbar“ Einstellung macht sich im Arbeitsleben breit und stellt zunehmend den Sonntag und Feiertag in Frage. „Flexibilisierung der Arbeitszeit“ sagen die einen, „krankmachende Entgrenzung“ sagen wir. Neben der Gefahr der Aushöhlung des Arbeitszeitgesetzes wird vor allem das Recht auf den freien Sonntag regelmäßig angegriffen. Zahlreiche Gerichtsentscheidungen bestätigen die grundrechtliche Bedeutung des Schutzes der Sonn- und Feiertagsarbeit. Der Schutz des freien Sonntags muss erhalten bleiben. Die Politik steht in der Verantwortung, die Sonntagsarbeit auf das gesellschaftlich notwendige Maß zu beschränken und kommerziell begründete Sonntagsarbeit zu unterbinden.
Für Handelsbeschäftigte ist der Sonntag der einzige planbare freie Tag, an dem Zeit ist für gemeinsame Freizeitaktivitäten, Familienleben und ehrenamtliche Tätigkeiten bspw. in einer Gewerkschaft oder in einer Partei. Die Aushöhlung der Sonntagsruhe ist ein Angriff auf das Grundrecht welches wir als ver.di vor allem im Einzelhandel durch zahlreiche erfolgreiche Klagen gegen Sonntagsöffnungen verteidigen. Es dürfen nicht die Weichen für generelle Sonntagsöffnungen gestellt werden. Deshalb sind wir auch gegen die Sonntagsöffnungen der Bibliotheken in NRW, die als Kulturort mit Bildungsauftrag nach dem Bibliothekstärkungsgesetz seit 2019 die Möglichkeit haben, an jedem Sonntag zu öffnen. Die Gewerkschaft ver.di in NRW geht hiergegen gerichtlich vor und hat Klage eingereicht.
Neben dem Schutz des freien Sonntags gibt es ein weiteres großes Thema im Handel, die Tarifbindung.
Tarifverträge sind der sicherste Schutz vor Altersarmut. Bis in die 2000er Jahre waren die Tarifverträge des Handels allgemeinverbindlich. Mit der Aufkündigung der Allgemeinverbindlichkeit erodierte die Tarifbindung zunehmend und immer mehr Unternehmen flüchten in die Tariflosigkeit. Der Anteil an tarifgebundenen Unternehmen in Deutschland liegt bei 43 Prozent, im Vergleich dazu liegt er im Handel mit knapp 30 Prozent deutlich darunter. In Betrieben ohne Tarifbindung wird bis zu 30 Prozent an Personalkosten eingespart. Auf Kosten der Beschäftigten wird der scharfe Verdrängungswettbewerb zusätzlich angeheizt. Eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge kann diesen Verdrängungswettbewerb unterbinden.
Die bisherige gesetzliche Regelung dazu setzt eine gemeinsame Beantragung durch beide Tarifvertragsparteien voraus. Das ist eine unüberwindbare Hürde, die dringend abgebaut werden muss. Wir brauchen für die mehr als eine Millionen Beschäftigten im Handel NRW wieder allgemeinverbindliche Tarifverträge, die sie vor Armut in Arbeit und im Alter schützen. Um dies zu erreichen, ist eine Gesetzesänderung nötig, die die Beantragung erleichtert. Hier sollte sich die künftige Landesregierung sichtbar auf die Seite der Beschäftigten stellen und durch eine Gesetzesinitiative auf Bundesebene unterstützen.
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